Berlin hat gewählt. Zum zweiten Mal innerhalb von 500 Tagen, nach dem der Berliner Verfassungsgerichtshof die Wahl vom 26. September 2021, u.a. wegen der Öffnung der Wahllokale über 18 Uhr hinaus, für ungültig erklärte.[1] Mit einer Wahlbeteiligung von 63,1 % (im Vergleich zu 75,4% in 2021) stehen damit das neue Abgeordnetenhaus und die Besetzungen der Bezirksverordnetenversammlungen fest.

Doch so sehr die Verantwortlichen nach dem 10%-Zuwachs der CDU/CSU versuchen, einen eindeutigen Wählerwillen aus dem Ergebnis abzuleiten, bleibt eine bohrende Frage: Was genau konnten wir eigentlich entscheiden?

In einer Demokratie zu leben, heißt die Wahl zu haben, oder? Doch eigentlich sind Wahlen nur ein vergleichsweise nebensächlicher Aspekt von Demokratie. 

In einer repräsentativen Demokratie hat die Bevölkerung nur die allernotwendigste Gewalt, nämlich die, sich ihre Regierung (in Form von Repräsentanten) selbst zu wählen. Über Wahlen kann der Bürger aber weder an der Gesetzgebung noch an der Konstitution des Staates mitwirken. 

Dem Wesen nach ist die Idee der Demokratie, dass sich alle Gesellschaftsmitglieder bei Prozeduren, die ihnen die gleichen Rechte zugestehen wie allen anderen, gemeinsam die Regeln geben, nach denen sie leben wollen.

Die Einführung von Repräsentation als politische Idee und Praxis entstand erst in der Frühen Neuzeit und hat mit dieser Idee von Demokratie wenig bis gar nichts zu tun. Die repräsentative Demokratie reproduziert stattdessen die uralte Unterscheidung zwischen Herrscher und Beherrschten. Sie hält die einfache Bevölkerung von der Politik fern und eine hochgradig vorselektierte Personengruppe, die bereits nicht repräsentativ für die Bevölkerung ist, über Wahlen an der Macht.

Forscher des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück haben im Auftrag des Bundesarbeitsministerium 2016 herausgefunden, dass der Bundestag 90% der Bevölkerung nicht repräsentiert. Statistische Abweichungen dieser „Repräsentationskrise“ waren für das Forscherteam um den renommierten Politikwissenschaftler Armin Schäfer weder in Mitte-Links-Regierungszeiten (rot-grün ab 1998) noch der Mitte-Rechts-Legislaturperiode (schwarz-gelb ab 2009) festzustellen. 

Wortwörtlich heißt es: „Keine der Analysen legt nahe, dass es zwischen 1998 und 2013 […] Unterschiede […] gab.“ [2]. In allen Legislaturperioden seit 1998 stimmten die politisch getroffenen Entscheidungen nur mit den Wünschen des oberen Einkommensperzentils überein. 

Dieser Umstand ist allerdings kein ausschließlich deutsches Phänomen. Im Mutterland der neuzeitlichen Demokratie, den USA, registrierte der Princeton-Professor Martin Gilens, Begründer des Forschungszweigs der modernen Responsivitätsforschung, das gleiche Muster. 

Die Ansichten der Armen und der Mittelschicht sind auch in den USA völlig irrelevant für die Politik. Ob 10, 50 oder 90 Prozent eine Forderung unterstützen – die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung bleibt konstant niedrig, insofern das reichste Perzentil dies nicht auch tut. [3]

Der politische Veränderungswille der Bevölkerung kann über Wahlen also nicht wirksam werden – oder um es mit den Worten von Angela Merkel zu sagen: 

„Aber genau deshalb bin ich auch zutiefst davon überzeugt, dass es richtig ist, dass wir eine repräsentative Demokratie und keine [direkte] Demokratie haben und dass uns die repräsentative Demokratie für bestimmte Zeitabschnitte die Möglichkeit gibt, Entscheidungen zu fällen, dann innerhalb dieser Zeitabschnitte auch für diese Entscheidungen zu werben und damit Meinungen zu verändern. […] Ich finde es auch vernünftig, dass sich die Bevölkerung das Ergebnis einer Maßnahme erst einmal anschaut und dann ein Urteil darüber bildet.“ 
[4]

Entscheiden Sie also selbst, wie viel sie mit Wahlen verändern können.

Aber nicht gleich den Kopf in den Sand stecken. Es gibt Hoffnung. 

Die Heilung gegen die Leiden der repräsentativen Demokratie ist nicht weniger, sondern mehr direkte Demokratie. Die breite, ungebildete Masse bei wichtigen Entscheidungen mitreden lassen?

Ja, denn als Demokratieaktivist teile ich die Meinung überhaupt nicht, dass jedes einzelne Individuum nicht klug genug sei, über die großen und entscheidenden Fragen zu urteilen. Meine Erfahrung ist: Die Menschen haben ein gesundes und vernünftiges Gespür für das, was notwendig, sinnvoll und in ihrem Interesse ist.

Deshalb fordere ich: Die Bürger müssen mehr eingebunden werden und auch innerhalb der Wahlperioden mitentscheiden können. 

Um das zu üben, habe ich vor 6 Jahren die DEMOCRACY App ins Leben gerufen, womit wir Bürger selbst über die Beschlüsse im Bundestag abstimmen und unsere Abstimmungsergebnisse mit denen der Abgeordneten vergleichen können.

Klimapolitik, Corona-Maßnahmen, Waffenlieferungen. In jedem Politikfeld gilt: Wir werden strukturell diskriminiert, weil wir nicht mitentscheiden können.
Meine Frage an Sie ist also: Ganz egal, wie Ihre und meine politische Meinung auch differieren mögen, können wir uns darauf einigen, dass wir beide gemeinsam darüber entscheiden sollten?


Marius Krüger

Gründer der DEMOCRACY App
Autor des Buches „Eine kleine Geschichte der Demokratie

Quellen

[1] vgl. Berlin.de: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin erklärt die Wahlen zum 19. Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen vom 26. September 2021 für ungültig, online, abgerufen am 08. Februar 2023

[2] Armin Schäfer et al.: Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der Deutschen Politik von 1998 bis 2015, 2016, online, S. 42

[3] vgl. Martin Gilens: Affluence & Influence: Economic Inequality and Political Power in America, 2012, S. 80 ff.

[4] Angela Merkel: Rede zur Vorstellung des Allensbacher Jahrbuchs der Demoskopie „Die Berliner Republik“, 3. März 2010, online, S. 3